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Perspektive Nutzende und Bewohner*innen

Für viele Menschen wurden die Behelfsheimsiedlungen ab 1944 ihr neues Zuhause und der zentrale Ort ihres Alltags. Erbaut wurden die Behelfsheime oftmals von Zwangsarbeiter*innen, für die diese eine weitere Facette ihres Leidens unter dem NS-Regime war.

Diese Tatsache stellte für uns einen Kontrast dar und warf die Frage auf, welche Rolle die Entstehungsgeschichte für die Bewohner*innen und Nutzer*innen (als Laube) der Behelfsheimsiedlungen spielt. Da wir uns in unseren Forschungen vor allem mit der Geschichte und Weiterentwicklung der Siedlungen befasst haben interessierte uns, was die Bewohner*innen und Nutzer*innen mit den Siedlungen verbinden. 

Um diese Fragen zu beantworten, suchten wir das Gespräch zu Bewohner*innen und Nutzer*innen der Behelfsheimsiedlungen Hermsdorf, Müggelheim und Karlshorst in Berlin. Wir sprachen mit Bewohner*innen und Nutzer*innen bei unseren Besuchen in den Anlagen, nahmen Kontakt zu den jeweiligen Heimatvereinen auf und verteilten Flyer in den Siedlungen. Die winterliche Jahreszeit, die Corona-Bedingungen und der kurze Projektzeitraum machten es uns nicht leicht Interviewpartner*innen zu finden. Ebenso sind die Thematik sensibel und mit Traumata verbunden, weshalb möglicherweise weitere Personen ein Gespräch ablehnten. Letztendlich konnten wir vier Gesprächspartner*innen gewinnen. Zwei Gespräche führten wir je mit einer Person und ein Gespräch mit zwei Geschwistern. Die Geschlechterverhältnisse waren mit zwei interviewten Frauen und Männern ausgeglichen. Die Gespräche fanden bei einem Spaziergang durch die jeweilige Siedlung oder im Wohnhaus der Gesprächspartner*innen statt. Wir erstellten im Vorfeld einen Fragenkatalog, den wir in einem frei geführten Gespräch einbanden. Um die Gesprächspartner*innen zu anonymisieren, werden im Folgenden geschlechtsneutrale Formen verwendet und die jeweilige Siedlung nicht benannt.

Wohngeschichte Behelfsheim

Alle Gesprächspartner*innen wurden zwischen 1939 und 1947 geboren und sind als Kind in das Behelfsheim gezogen oder dort geboren. Da wir unsere Interviewanfragen weit streuten und versuchten möglichst viele verschiedene Menschen anzusprechen, ist hieraus zu schließen, dass sich diese Altersgruppe und/oder die Erstbezieher*innen sich am stärksten mit dem Begriff Behelfsheim(-Siedlung) identifiziert. 

Die Familien der Gesprächspartner*innen verloren aufgrund von Bombardements ihre Wohnung. Bei zwei Familien bekam der Vater oder Großvater über das angestellte Unternehmen das Behelfsheim zugewiesen. Bei einer*m anderen Gesprächspartner*in war der Vater am Bau der Behelfsheimsiedlungen beteiligt und konnte sich daher ein Behelfsheim in der betreffenden Siedlung aussuchen. Diese*r Gesprächspartner*in bewohnte zunächst mit beiden Eltern und ab 1945 nur noch mit der Mutter das Behelfsheim. Ende der 1950er Jahre zogen sie aus dem Behelfsheim aus und in eine „richtige Wohnung“ um da die Mutter „die Nase voll hatte“. Die beiden anderen Familien bewohnten das Behelfsheim zu viert. In einem Fall mit den beiden Eltern und zwei Kindern. Nach Auszug der Kinder blieben die Eltern in dem Behelfsheim wohnen. Bei der anderen Familie bewohnte das Kind mit der Mutter und den Großeltern gemeinsam das Behelfsheim. Die Mutter und das Kind bezogen später ein eigenes Behelfsheim.

Alle Gesprächspartner*innen zogen im Jugendalter/als junge Erwachsene aus dem familiären Behelfsheim aus. Sie hatten trotzdem noch weiter eine starke Verbindung in die Siedlung, weil die Eltern, Großeltern der eigenen oder der liierten Familie noch in ihr wohnten. In späteren Jahren zogen alle Gesprächspartner*innen zurück in die Siedlung. Ein*e Gesprächspartner*in wohnte mit ihrer Familie in einem bereits umgebauten Behelfsheim, später bezogen sie eine Wohnung und nutzen die Parzelle als Laube. Ein*e andere Gesprächspartner*in konnte das Haus der verstorbenen Großeltern als Laube übernehmen, riss es später ab und baute ein neues Haus auf der Parzelle. Und eine andere Gesprächspartner*in zog zur Mutter und übernahm nach dem Tod das Behelfsheim als Wohnhaus.

Erinnerungen und Beziehung zum Behelfsheim

Alle Gesprächspartner*innen wuchsen in der jeweiligen Behelfsheimsiedlung auf. Nach der Kindheit gefragt erzählten sie von den vielen Kindern, dem Spielen, der Freiheit beim Aufwachsen. Aber auch von Hunger und Entbehrungen, Improvisation und traumatischen Erlebnissen durch die Besatzer. Vergleicht man dies mit Erzählungen in anderen Orten Deutschlands aus jener Zeit, so ist festzustellen, dass diese vergleichbar sind. 

Das Behelfsheim selbst prägte durch die Enge der Räume und den stetigen Weiterbau. Drinnen konnte nicht gespielt, keine Freunde mitgebracht und keine Geburtstage gefeiert werden. Nach und nach erhielten die Behelfsheime einen Wasseranschluss, eine bessere Isolation und bei einer Familie auch ein Badezimmer.

Für die Gesprächspartner*innen ist jeweilige Siedlung ein wichtiger Lebensmittelpunkt. Für sie ist oder war das Behelfsheim ihr Zuhause. Die*der Gesprächspartner*in die das Behelfsheim abriss, um die Parzelle neu zu bauen, beschrieb eine große Trauer darüber. Das Behelfsheim war für sie*ihn der Ort der Kindheit.

Im Alltag der Gesprächspartner*innen spielt es keine Rolle, dass die Siedlungen mit Zwangsarbeit entstanden. Ihr Zugang zu der Thematik erfolgte unterschiedlich. Ein*e Gesprächspartner*in hat eine deutliche Erinnerung an die Zwangsarbeiter in der jeweiligen Siedlung. Es handelte sich um 17 niederländische Männer, die zum Bau der Dächer eingesetzt waren. Die Erzählungen im Interview dazu waren von persönlichen Anekdoten gespickt und nicht bitter. Die anderen Gesprächspartner*innen gaben an als Kinder nicht gewusst zu haben, dass die Siedlungen mit Zwangsarbeit entstanden. Ein*e Gesprächspartner*in sagte aus, dass es sie*ihn als Kind auch nicht interessiert hätte. Sie*er habe vom Großvater als junge Erwachsene davon erfahren. In einem anderen Gespräch wurde die spätere Verdrängung der NS- und Kriegszeit angesprochen. In der Familie wurde über diese Zeit kaum gesprochen und die*der Gesprächspartner*in gab an, aus einem Buch über die Siedlung über die Zwangsarbeit erfahren zu haben.

Der Umgang mit Erinnerung erfolgt in verschiedenen Formen. Schweigen und Vergessen sind Wege, um mit traumatischen oder tabuisierten Erlebnissen umzugehen. Auch Trauer und Trauma sind Umgangsformen, jedoch wurden sie im Gespräch nicht genannt. In zwei Gesprächen war es schwierig, um die NS-Zeit und Thematik zu sprechen. Den Fragen wurde ausgewichen und neue Themen angeschnitten. Im anderen Gespräch war die Person offen, aber gab an nicht interessiert zu sein an der Thematik.

Erinnerungskultur Behelfsheimsiedlung

In den jeweiligen Siedlungen ist heute keine Erinnerungskultur bezogen auf die Zwangsarbeit vorhanden. Nach Aussage der Gesprächspartner*innen spiele die Zwangsarbeit heute in der Siedlung keine Rolle mehr. Sie vermuteten, dass viele nicht davon wüssten oder es viele auch nicht interessieren würde. Jedoch gaben die Gesprächspartner*innen an, (neuen) Nachbarn von der Thematik erzählt zu haben. Im Gespräch wurde deutlich, dass die Gesprächspartner*innen kein intrinsisches Interesse daran haben, selbst aktiv an das NS-Verbrechen in ihrer Siedlung zu gedenken. Ein*e Gesprächspartner*in gab an, das müsste jemand machen der sich da „richtig reinkniet“. Sie*er selbst habe kein Interesse an dem Thema. Zwei Gesprächspartner*innen fanden Elemente der Erinnerung, wie z.B. eine Informationstafel ein gutes Mittel, um auf die Zwangsarbeit aufmerksam zu machen.

Resümee

 

Da nur drei Gespräche mit vier Personen stattfanden und die interviewten Personen viele biographische Gemeinsamkeiten haben, können nur eingeschränkt allgemeine Rückschlüsse aus den Interviews gezogen werden.

Aus den Interviews ist abzuleiten, dass es in den jeweiligen Siedlungen keine oder keine übergreifende Erinnerungskultur bezogen Zwangsarbeit gibt. Auch wurde deutlich, dass diese eher unwahrscheinlich in einem bottom-up-Prozess aus den Siedlungen entsteht. Es gibt nur noch wenige Bewohner*innen und Nutzer*innen die die Zwangsarbeit selbst noch mitkommen haben. Viele Behelfsheime sind im Verlauf der fast 80 Jahre stark transformiert oder wurden abgerissen. So ist diese Epoche auch rein äußerlich auch nur noch mit geschultem Auge wahrnehmbar. Da es wenige Informationsquellen zur Thematik Zwangsarbeit in Behelfsheimsiedlungen gibt, ist es aufwendig, selbstständig an Informationen zu gelangen. Umso wichtiger wären deshalb persönliche Gespräche zur Verbreitung der Thematik. Da aber selbst die Gesprächspartner*innen, die von der Zwangsarbeit wissen, wenig über die Thematik mit Nachbar*innen sprechen, wird das allgemeine Bewusstsein in den Siedlungen möglicherweise weiter zurückgehen.

Die Gesprächspartner*innen zeigten keine Ablehnung oder sie befürworteten Materialien zur Aufklärung über die Zwangsarbeit bei der Entstehung der Siedlungen. Von ihnen selbst ist dabei keine aktive Beteiligung auszugehen. 

Aus den Interviews ist außerdem zu entnehmen, dass für die Gesprächspartner*innen der Kontrast zwischen „Ort des Schutzes“ und „Ort des Leidens“ nicht vorhanden oder nicht so ausgeprägt war wie für uns als „Außenstehende“. Die Interviewpartner*innen verleugnen die Tatsache der Zwangsarbeit nicht, sehen dabei aber auch keine Verbindung zu sich selbst. 

Wohngeschichte Behelfsheim
Erinnerung und Beziehung zum Behelfsheim

Quellen

Interview mit Bewohner*in, Berlin (29.01.2022)

Interview mit Bewohner*in, Berlin (07.02.2022)

Interview mit Bewohner*in, Berlin (03.03.2022)

Quellen

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