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Die Angst vor Verdrängung 

Die Behelfsheimsiedlung Karlshorst besteht seit ihrer Errichtung in weitgehend unveränderter Größe fort. Von Flächensanierungen und anderweitigen städtebaulichen Überformungen blieb sie verschont. Dies verdankt sie (in Teilen) der über lange Zeit fortbestehenden Wohnungsnot der Nachkriegsjahre und der nahegelegenen Zentrale der sowjetischen Militäradministration in der DDR. Letztere trennte die Siedlung im westlichen Bereich großflächig von der übrigen Stadt ab. Der im Osten angrenzende Berliner Eisenbahn-Außenring und die Niederschlesisch-Märkische Eisenbahn im Süden separierten die Siedlung von der mittelbar anschließenden Wohnbebauung. Die Behelfsheimsiedlung befand sich also in einer Isolationslage. Es liegt nahe, dass das Ausbleiben größerer städtebaulicher Veränderungen zu DDR-Zeiten hiermit zu begründen ist.

Die Angst vor Verdrängung
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Diese Bedingungen änderten sich grundlegend mit der deutschen Wiedervereinigung. Das Sperrgebiet rund um die Zentrale der sowjetischen Militäradministration entfiel, die letzten russischen Soldaten zogen 1994 aus Karlshorst ab [1]. Die Barriere, die das Gebiet zuvor Richtung Westen abschirmte, bestand nicht mehr fort. Die Erreichbarkeit der ehemaligen Behelfsheimsiedlung verbesserte sich hiermit deutlich und lenkte vermehrt Aufmerksamkeit  auf sie. Berlin wurde als zukünftige Hauptstadtregion ein erhebliches Bevölkerungswachstum vorausgesagt, das entsprechende Wohnraumbedarfe nach sich ziehen sollte [2]. Durch die wiederhergestellte Verknüpfung der Siedlung  mit dem Rest Karlshorsts und der Berliner Innenstadt stellte die ehemalige Behelfsheimsiedlung einen interessanten Standort für zukünftige Wohnbebauung dar. Vor diesem Hintergrund war das Fortbestehen der Kleingartenanlage und damit der ehemaligen Behelfsheimsiedlung über Jahre hinweg unsicher. 1994 trat der erste gesamtberliner Flächennutzungsplan in Kraft. Die ehemalige Behelfsheimsiedlung wird hier als Kleingartenfläche geführt, ihr Fortbestehen wurde somit mittelfristig gesichert [3]. Im „Kleingartenentwicklungsplan Berlin 2030“ von 2020 bekennt sich der Berliner Senat zu einer langfristigen Sicherung der Siedlung [4]. Ein Bebauungsplan, der den Erhalt sichert, befindet sich seit 2013 in Aufstellung.

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Abbildung 1: Luftbild Behelfsheimsiedlung Karlshorst (2020)

Kleine Entwicklungsschritte – Gebaut wird immer

Kleine Entwicklungsschritte

Abseits dieser großräumigen Geschehnisse hat sich die Siedlung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fortlaufend weiterentwickelt. Veränderungen und Verbesserungen sind vornehmlich auf Initiativen der örtlichen Bevölkerung zurückzuführen, wobei Bauarbeiten häufig in Teilen oder gar vollständig durch die Bewohner*innen durchgeführt wurden. Beispielhaft hierfür ist der Anschluss an das Elektrizitätsnetz ab 1951 und die Herstellung witterungsunabhängig befahrbarer Straßen. Zu diesem Zeitpunkt wohnten in der Siedlung rund 1.300 Personen (250 Familien) [5] [6]. Während dieser Zeit entstanden weitere Einrichtungen, die der Versorgung des Gebiets dienten (1947 eine Gaststätte; 1948 eine Schule, die bis 1969 genutzt wurde) [7]. Die, zu Beginn sehr langsame, Herstellung sozialer Infrastruktur war nötig, da das Behelfsheim, angesichts des kriegsbedingten Wohnungsmangels, über lange Zeit für viele Menschen zu einem festen Heim werden sollte [7] [8].

 

Der jahrzehntelang fortbestehende Wohnungsmangel in Ost- sowie Westberlin, veranlasste die Regierung Ostberlins, das Wohnen in der, in den 1950er Jahren zur Kleingartenanlage umgewidmeten, Behelfsheimsiedlung zu tolerieren. Insbesondere im Zuge von Dauerwohnnutzungen wurden die ehemaligen Behelfsheime den Bedürfnissen der jeweiligen Bewohner*innen baulich angepasst, zumeist von den Bewohner*innen selbst. Als Wochenendhaus genutzte Heime waren hiervon ebenso betroffen.

Gebaut wurde, was die individuelle Kreativität, das handwerkliche Geschick und die verfügbaren Materialien hergaben. Der bauliche Fokus wurde ebenfalls unterschiedlich gesetzt. Mal galt es, das eigene Haus widerstandsfähiger gegenüber Witterungsbedingungen zu gestalten, mal stand die Vergrößerung der Wohnfläche oder der Einbau von Komfortmerkmalen im Vordergrund. Zu beachten ist ebenfalls, dass die Behelfsheime innerhalb der Siedlung keinesfalls gleichen Typs waren. Selbst die Materialien unterschieden sich (Bspw. Holzbauten gegenüber Mauerwerk). [8] Entsprechend uneinheitlich ist das heutige Erscheinungsbild. Viele ehemalige Behelfsheime sind als solche noch erkennbar, viele allerdings auch nicht. Was nahezu alle Heime eint: Es wurden Änderungen vorgenommen, zumeist verbunden mit einer Vergrößerung der Grundfläche und materiellen Verbesserungen an den Außenwänden. Anbauten, daran angepasste Veränderungen am Dach, umgestaltete Eingangsbereiche, versetzte Fenster und Türen sowie neue Terrassen dürften die Wohl am häufigsten zu beobachtenden baulichen Anpassungen darstellen. Teilweise wurden gänzlich neue Bauten um ein bestehendes Behelfsheim herum errichtet oder zwei Heime zu einem großen zusammengefügt. Verallgemeinerungen hinsichtlich wiederkehrender Umbautypen lassen sich kaum treffen -  jedes Haus ist ein Unikat. [9]
Trotz erheblicher Anstrengungen wurden Behelfsheime nicht für die Ewigkeit konstruiert. An diversen Häusern bestehen, trotz oder gerade wegen der baulichen Veränderungen, Mängel. Insbesondere Schimmel und Setzrisse stellen die heutige Nutzer*innen vor Probleme. [10]

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Abbildung 2: Behelfsheim, vermutlich mit Originalabmessungen (2022)
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Abbildung 3: Behelfsheim mit Satteldach und seitlichem Anbau (2022)
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Abbildung 4: Zwei Behelfsheime zu einem großen Heim zusammengefügt (2022)

Trotz erheblicher Anstrengungen, Behelfsheime wurden nicht für die Ewigkeit konstruiert. An diversen Häusern bestehen, trotz oder gerade wegen der baulichen Veränderungen, Mängel. Insbesondere Schimmel und Setzrisse stellen die heutige Nutzer*innen vor Probleme. [10]

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Die Siedlung und ihre Nutzer*innen

Die Siedlung und ihre Nutzer*innen

Die Bewohner*innenstruktur hat sich im Verlauf der Zeit erheblich verändert. Die Anzahl der dauerwohngenutzten Parzellen ist stark gesunken. Heute überwiegt die kleingärtnerische-/Wochenendhausnutzung. In den Wintermonaten sind die Dauerbewohner*innen weitgehend unter sich, wohingegen das Nutzungsmaß der Gesamtanlage in den Sommermonaten erheblich zunimmt. [8] Zugenommen hat ebenfalls die Zahl der Parzellen. Im Zuge des Wechsels von Nutzer*innen wurden bereits zu DDR-Zeiten die Parzellenzuschnitte verkleinert. Gleichbedeutend stieg die Parzellenanzahl an. Das Jahr 1961 sticht hierbei als Jahr mit besonders vielen Neuzuweisungen hervor. Westberliner*innen wurde ab diesem Zeitpunkt die Nutzung ihres Kleingartens in Ostberlin verwehrt und die freigewordenen Parzellen neu vergeben. [7]

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Aufbruch in die Nachwendezeit

Aufbruch in die Nachwendezeit

Mit der Wiedervereinigung rückte neben der eingangs erwähnten Grundsatzfrage nach der Zukunft der ehemaligen Behelfsheimsiedlung die Frage der Legalität des Dauerwohnens in den Fokus der Aufmerksamkeit. Das war zu DDR-Zeiten zwar nicht legal, jedoch geduldet. Drohte den Dauerbewohner*innen nun der Rauswurf? Nein, zwar unterlag die ehemalige Behelfsheimsiedlung fortan dem Bundeskleingartengesetz, bestehende Dauernutzungsverträge wurden allerdings gem. § 20a (BKleingG) (personengebunden) fortgeführt. Auf Grundlage des Sachenrechtsbereinigungsgesetzes konnten einige Nutzer*innen ihre Parzellen vom Land Berlin erwerben. [8] [11] Von dieser Möglichkeit machten allerdings verhältnismäßig wenig Personen gebrauch [12]. Inzwischen ist der Erwerb nicht mehr möglich.

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Heute stellt die ehemalige Behelfsheimsiedlung eine beliebte Grünoase unweit der Berliner Innenstadt dar. Das Bewusstsein für die bewegte Historie der Siedlung scheint bei vielen Nutzer*innen fest verankert zu sein [8]. Der Kleingartenverein Florafreunde e.V. bemüht sich dieses Wissen auch für zukünftige Generationen zu bewahren und zugänglich zu machen. Wie lange die ehemaligen Behelfsheime noch bestehen werden, wird sich zeigen. Ihr Schicksal liegt vornehmlich in den Händen der jeweiligen Nutzer*innen. Gewerkelt wird jedenfalls immer. Aktuell erfolgt der Anschluss der gesamten Siedlung an das Trinkwassernetz [13].

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Abbildung 5: Ausgebautes Behelfsheim (2022)
Abbildung 6: Ausgebautes Behelfsheim (2022)

Abbildungen

Abbildungen

Abbildung 1: Landesvermessung und Geobasisinformation Brandenburg (2021): Digitale Orthophotos, [online] https://geobroker.geobasis-bb.de/basiskarte. php?mode=startup&aProductId=253b7d3d-6b42-47dc-b127-682de078b7ae zuletzt aufgerufen am 11.02.2022.

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Abbildung 2: Eigene Aufnahme (2022)

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Abbildung 3: Eigene Aufnahme (2022)

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Abbildung 4: Eigene Aufnahme (2022)

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Abbildung 5: Eigene Aufnahme (2022)

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Abbildung 6: Eigene Aufnahme (2022)

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Quellen 

Quellen

[1] Kolbe, C (2014): Abzug der Sowjetarmee aus Berlin: Do swidanija, DDR, [online] https://www.spiegel.de/geschichte/russische-armee-abzug-aus-berlin-und-brandenburg-1994-a-990560.html zuletzt aufgerufen am 11.02.2022.

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[2] Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen (2019): Siedlungen der 1990er Jahre in Berlin und Umgebung, S. 30f, [PDF] https://www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/wohnungsbau/de/wohnsiedlung1990/download/Siedlungen_der_1990er_Jahre_in_Berlin_und_Umgebung-Teil1.pdf zuletzt aufgerufen am 11.02.2022.

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[3] Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie-II (1994): Flächennutzungsplan Berlin, [PDF] https://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/fnp/pix/historie/8_FNP_1994_gr.pdf zuletzt aufgerufen am 11.02.2022.

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[4] Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen (2020): Kleingartenentwicklungsplan Berlin 2030, S. 59, [PDF] https://datenbox.stadt-berlin.de/filr/public-link/file-download/8a8ae3ab79410007017a3359c0e57217/10258/-8698999424853903574/Broschuere_KEP.pdf zuletzt aufgerufen am 11.02.2022.

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[5] Berliner Zeitung (1949): 250 Berliner Familien warten auf Strom, S. 6, Nr. 124.

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[6] Berliner Zeitung (1955): Man kann trockenen Fußes gehen, S. 6, Nr. 119.

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[7] AG Chronik des KGV Florafreunde e.V. (o.J.): Die Vereinschronik [online] https://www.kgv-florafreunde.de/vereinschronik zuletzt aufgerufen am 11.02.2022.

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[8] Gespräch in der Kleingartenanlage „Florafreunde“ (25.11.2021).

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[9] Bestandsaufnahme in der Kleingartenanlage „Florafreunde“ (20.01.2022).

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[10] Gespräch in der Kleingartenanlage „Florafreunde“ (25.11.2021).

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[11] AG Weißenseer Kleingärtnertradition des Bezirksverbands der Kleingärtner Berlin-Weißensee e.V. (2011): Das historisch gewachsene Problem des Dauerwohnens in Kleingartenkolonien, S. 13f., [PDF] https://www.kleingaertner-weissensee.de/Dokumente/Dokumente/heft_19.pdf zuletzt aufgerufen am 11.02.2022.

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[12] Geoportal Berlin (2022): ALKIS Berlin s/w (Amtliches Liegenschaftskatasterinformationssystem), [online] https://fbinter.stadt-berlin.de/fb/index.jsp?loginkey=zoomStart&mapId=wmsk_alkis_sw@senstadt&bbox=399791,5814539,402125,5815911 zuletzt aufgerufen am 11.02.2022.

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[13] KGV Florafreunde e.V. (2021): Trinkwasser – Projekt, [online] https://www.kgv-florafreunde.de/trinkwasser-projekt zuletzt aufgerufen am 11.02.2022.

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